- Pédagogie - lycée -
Flucht in den Norden
Karïn setzte sich aufs Bett und zündete sich eine
Zigarette an. [...] Johanna setzte sich neben sie. "Ich bin furchtbar müde",
sagte sie und schloss die Augen. "Von der Reise?" erkundigte Karin sich. Johanna,
die nicht gleich antwortete, riss nach ein paar Sekunden die Augen auf, erschrocken,
als sei sie in Gefahr gewesen, gleich hier auf der Stelle einzuschlafen oder
doch das Bewusstsein zu verlieren. "Nicht nur von der Reise", sagte sie schließlich.
[...] "Ich weiß", sagte mit ihrer tiefen, zärtlichen Stimme Karin. [...]
Johanna stand auf. Ich werde gleich weinen, dachte sie und ging rasch zum Fenster,
wo sie stehen blieb. Sie hatte den Blick über die friedlich elegante Straße
in dem Park. Mit allen Kräften versuchte sie ihre Gedanken auf diesen angenehmen
Blick zu konzentrieren. Aber es hing ihr etwas anderes vor den Augen. [...]
"War es sehr schlimm?" fragte Karin vom Bett her. "Reden wir nicht davon", antwortete
Johanna fast zornig.
Sie hatten sich ziemlich genau ein Jahr lang nicht gesehen und sich nur wenige
Briefe geschrieben in dieser Zeit, die für Johanna eine sehr bewegte (1) gewesen
war. In ihnen war aber die Erinnerung an eine große und festgegründete Freundschaft,
obwohl diese Freundschaft nur sechs Monate gehabt hatte, sich zu entfalten und
solid zu werden. Das waren die sechs Monate, die Karin zum Studium in Berlin
gewesen war. Sie hatte Johanna in der Universität kennen gelernt, Johanna studierte
Nationalökonomie, Karin hatte Kunstgeschichte belegt. Sie trafen sich in einem
philosophischen Kolleg (2) und hatten erst mehrere Male - halb durch Zufall,
halb absichtlich - nebeneinander gesessen, ehe sie miteinander sprachen. Dann
kam die Zeit des täglichen Zusammenseins, bis Karin plötzlich, auf ein Telegramm
hin, in den Norden zurück musste. Es war die Nachricht von dem tödlichen Unglücksfall
ihres Vaters, die alles änderte. Johanna hatte [...] die Zusammengebrochene
(3) [...] nach der norddeutschen Hafenstadt begleitet, von wo aus das Schiff
in ihre Heimat ging. [...] Der Schmerz über diesen Verlust war furchtbar für
sie.
Als Karin und Johanna sich damals trennten, wussten sie selbst noch nicht, dass
die Verbundenheit zwischen ihnen eine so feste geworden war. Sie merkten es,
als sie sich nicht mehr sahen. Sie dachten viel aneinander. [...] Johanna entwickelte,
in den Monaten nach Karins Abreise, eine immer entschlossenere, mutigere und
radikalere Aktivität auf einem Gebiet, an dem sie bis dahin [...] durchaus dilettantisch
interessiert gewesen war: auf dem politischen. Sie trat in eine kommunistische
Studentengruppe ein, arbeitete propagandistisch, redete in Versammlungen. Das
hing [...] vor allem mit der neuen und heftigen Beziehung zusammen, die sie
mit einem der Freunde ihres älteren Bruders Georg verband.
Sie hatte sich dem radikalen [...] Kreise, der um ihren Bruder, philosophischen
Schriftsteller und aktiven Sozialisten, gruppiert war, bis dahin ferngehalten
(4). Dem Reporter [...] Bruno war sie zunächst außerhalb dieses politischen
Zirkels begegnet. Ihre Freundschaft mit ihm brachte sie auch seinen Genossen
(5) und dadurch ihrem Bruder näher. Nach einigen Wochen gehörte sie ganz zu
diesen. Sie nahm energisch, von Tag zu Tag hingebungsvoller (6), Anteil an ihrer
Arbeit.
So wurde sie von der Katastrophe, die in den ersten Monaten des nächsten Jahres
über ihr Vaterland kam, aufs persönlichste [...] betroffen. Ihr Bruder und einige
seiner Freunde, darunter Bruno, konnten ins Ausland fliehen; andere wurden verhaftet,
andere getötet. Sie selbst musste sich versteckt halten, wurde gefangen, wieder
freigelassen, wollte nicht abreisen, [...] aber die nächste Verhaftung stand
schon bevor; sie wurde gewarnt, musste sich entschließen, falsche Papiere zu
benutzen, die ihr zur Verfügung standen; sie verließ Deutschland. Durch einen
Kameraden hatte sie den Brief, der sie bei Karin anmeldete, aus Stockholm befördern
lassen.
"Reden wir nicht davon", sagte Johanna. "Nicht jetzt, später" - Karin fragte
nicht weiter.
Aus Klaus Mann, Flucht in den Norden, 1934
1 eine bewegte Zeit = une époque tourmentée
2 das Kolleg = die Konferenz
3 zusammenbrechen = s'effondrer
4 sich jm fernhalten ... = eine Distanz zu jm bewahren
5 die Genossen = die Kameraden
6 hingebungsvoll = leidenschaftlich, engagiert
| I. ETUDE DU TEXTE - sur 14 |
Lesen Sie den Text bis "...Sie dachten viel aneinander"!
1. Richtig oder falsch? Kreuzen Sie an und begründen Sie Ihre Antwort mit
einem Zitat aus dem Text!
| a. Johanna kommt gerade von einer langen Reise | Richtig Falsch |
Zitat: ... ... ... |
|
| b. Vor sechs Monaten haben sich Karin und Johanna getrennt. | Richtig Falsch |
Zitat: ... ... ... |
|
| c. Karin ist Johannas Schwester. | Richtig Falsch |
Zitat: ... ... ... |
|
| d. Karins Heimat ist Deutschland. | Richtig Falsch |
Zitat: ... ... ... |
|
2. Wie fühlen sich Karin und Johanna?
Lesen Sie folgende Zitate aus dem Text und kreuzen Sie jeweils das passende
Adjektiv an!
a. "Ich weiß, sagte mit ihrer tiefen, zärtlichen Stimme Karin." (Zeile 6)
Karin ist...
kalt
neugierig
müde
ratlos
verständnisvoll
b. "Aber es hing ihr etwas anderes vor den Augen." (Zeile 10)
Johanna ist...
besorgt
träumerisch
hellseherisch
ironisch
ratlos
3. Ordnen Sie die verschiedenen Etappen von Karins und Johannas Geschichte chronologisch ein!
A. Sie schrieben sich.
B. Sie sahen sich jeden Tag
C. Sie diskutierten zusammen
D. Johanna fuhr mit Karin nach Norddeutschland
E. Sie machten Bekanntschaft auf der Universität.
F. Sie sahen sich in Finnland wieder.
| 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 |
| ... | ... | ... | ... | ... | F |
Lesen Sie nun den ganzen Text!
4. Zitieren Sie eine Textstelle, die zeigt, dass...
- ....Karin ein persönliches Drama erlebt hat.
Zitat: ... ... ... ... ... ...
- .....Johanna sich politisch engagiert.Zitat: ... ... ... ... ... ...
- .....Johannas Bruder politisch engagiert ist.Zitat: ... ... ... ... ... ...
- .....sich in Johannas Heimat ein politisches Drama abgespielt hat.Zitat: ... ... ... ... ... ...
5. Lesen Sie folgende Zitate und beantworten Sie die Fragen!
a. Zitat 1: "Nicht nur von der Reise," sagte sie schließlich." (Zeile 5-6) Auf wen bezieht sich "sie"?... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ...
b. Zitat 2: "Es war die Nachricht von dem tödlichen Unglücksfall ihres Vaters." (Zeile 23-24)
Auf wen bezieht sich "ihres"?... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ...
c. Zitat 3: "Ihre Freundschaft mit ihm brachte sie auch seinen Genossen und dadurch ihrem Bruder näher". (Zeile 39-40)
Auf wen bezieht sich "seinen"?... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ...
d. Zitat 4: "Sie nahm energisch, von Tag zu Tag hingebungsvoller, Anteil an ihrer Arbeit." (Zeile 40-41)
Auf wen bezieht sich "ihrer"?
... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ...
6. Warum kann man bei Karin und Johanna von einer "festgegründeten Freundschaft"
reden? (50 Wörter)
... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ...
7. Was hat Johanna zum politischen Engagement geführt? (50 Wörter)
... ... ... ... ...
... ... ... ... ... ... ...
8. Wählen Sie eines der beiden folgenden Themen:
A. Johanna hat sich entschlossen, politisch aktiv zu werden.
Würden Sie sich persönlich für Ihre Mitmenschen, für eine Idee engagieren? (150 Wörter)
ODER
B. Was bedeutet Freundschaft in Ihrem Leben? Wären Sie persönlich zu allem bereit, um einem Freund / einer Freundin zu helfen? (150 Wörter)
| II. TRADUCTION - sur 6 |
Übersetzen Sie von "So wurde sie von der Katastrophe ... " bis "...aber die nächste Verhaftung stand schon bevor."