- Pédagogie - lycée
RUDOLF
Der Erzähler ïst Deutscher und lebt seit Jahren mit seiner Frau in Paris.
Über Jahre hinweg hatte ich Rudolf nur aus dem Briefwechsel gekannt, den meine Mutter mit ihm führte. Meine Mutter berichtete, daß Rudolf Jazzmusiker sei. Der Gedanke an sächsische (1) Jazzer reizte eher zum Lachen. Immerhin, ein Musiker, noch dazu im anderen Deutschland, hob sich aus dem Familieneinerlei ab, und ich war gewissermaßen stolz auf ihn.
Es war im Juni 1988, als eines Abends das Telefon klingelte und ich zum ersten Mal Rudolfs Stimme hörte mit ihrem weichen Akzent: Guden Abend, hier ist Rudolf. Ich bin hier in Paris! Ich rufe vom Hotel aus an! Ich stehe mitten im Quartier Ladin! Er hatte eine Reiseerlaubnis bekommen, um seine kranke Großmutter in Stuttgart zu besuchen, und plötzlich die Idee gehabt, noch weiter zu reisen. Dort stellte man ihm einen bundesdeutschen Reisepaß aus, mit dem er ungehindert die französische Grenze passieren konnte. Er lachte über seinen Einfall, und natürlich sagte ich ihm, er solle sofort vorbeikommen, wir würden ihn zum Abendessen einladen.
Wir aßen in einer großen lauten Brasserie zu Abend. Danach hatten wir Durst und betraten ein Café.
Das ist also ein Flipper, sagte Rudolf.
Ich starrte ihn an und sagte lachend: Erzähl mir nicht, daß du noch nie geflippert hast!
Ich hab' davon gehört, aber gespielt hab' ich in der Tat noch nie.
Na, dann wirst du's jetzt lernen.
Rudolf stellte sich vor den Apparat, schoß die Kugel nach oben. Nach drei Sekunden klackte es, das Spiel war zu Ende. Rudolf hatte nicht einmal die Hände gerührt. Ich brach in Lachen aus, aber er nahm es mir nicht übel.
Es war meine Frau, die vorschlug, noch ins New Morning (2) zu gehen. Das Konzert hatte bereits begonnen, als wir eintraten. Der Saxophonist unterbrach plötzlich ein gerade begonnenes Stück. Da trat er zum Bühnenrand und rief laut: Rudolf! Rudolf, is that you?
Rudolf lief rot an und winkte ab, aber es gab keine Möglichkeit, wegzulaufen. Rudolf ließ sich zur Bühne schieben, und der Schwarze stellte sein Saxophon ab und umarmte ihn pathetisch. Der Schlagzeuger (3) stand auf, tauschte einen Handschlag mit Rudolf, der sich schwerfällig hinter die Becken (4) setzte.
Nach dem Konzert saßen wir mit Murray und seiner Band bis zum Morgengrauen zusammen und tranken Wein, Bier und Schnaps durcheinander.
Das nächste Mal sahen wir uns nach dem Mauerfall im Frühsommer 90. Rudolf kam mit seiner Familie in einem kleinen Bus, der sonst zum Transport der Band und der Instrumente diente, nach Paris. Es war das erste Mal, daß ich Helga und die Mädchen sah, aber auf Rudolfs Ferienstimmung lag ein Schatten. Seine Band hatte sich aufgelöst (5), ihr Banjospieler war Bürgermeister des Ortes geworden, die anderen hatten sich getrennt, sie fanden keine Aufträge (6) mehr.
Es ist schon schwierig jetzt, sagte Rudolf. Die Leute haben andere Sorgen im Moment, als Musik zu hören. Dein Vater hat mir angeboten, Versicherungsagent (7) zu werden wie er.
Das wirst du um Gottes willen nicht machen! sagte ich. Versicherungen verkaufen! Du bist Musiker.
Das habe ich ihm auch gesagt. Ich weiß ja nicht einmal, wie man Versicherungen verkauft.
Ich sah Rudolf wieder im nächsten Frühjahr, zum 60. Geburtstag meines Vaters. [...] Ich saß neben meinem Vater, der auf Rudolf deutete: "Na, er ist ja auch endlich vernünftig (8) geworden. Er hat mir vorhin gesagt, daß er es mit der Agentur versuchen will, wenn's noch nicht zu spät ist. Nächste Woche fahren die Leute rüber (9), um ihn zu schulen."
Ich habe Rudolf noch nicht wiedergesehen seit dem Geburtstag meines Vaters, aber wir schreiben einander regelmäßig. Rudolf arbeitet viel, um den Bestand (10) zu erhöhen. Wenn ich von Zeit zu Zeit nach acht Uhr abends dort anrufe, habe ich immer Helga am Telefon, die mir sagt, er sei noch nicht zu Hause. Ich weiß nicht warum, aber ich denke lieber an ihn, wie er am Abend unserer ersten Begegnung war, vor dem Flipper und hinterher im New Morning, als mir auszumalen, wie er durch die Vorstädte fährt, um Versicherungen zu verkaufen.
Nach Michael KLEEBERG, Der Kommunist von Montmartre, 2002
l. sächsisch: cf. Sachsen (eines der fünf neuen Bundesländer)
2. New Moming: ein bekanntes Pariser Jazzlokal
3. der Schlagzeuger: le batteur
4. die Becken: les cymbales
5. seine Band hatte sich aufgelöst = seine Band gab es nicht
mehr.
6. der Auftrag (-"e): le contrat
7. der Versicherungsagent: l'agent d'assurances
8. vernünftig: raisonnable
9. rüber = hinüber (d. h.: in den Osten)
10. der Bestand: (ici) la clientéle, les
assurés
| I. COMPREHENSION ET TRADUCTION sur 10 |
1. Ordnen Sie folgende Angaben über Rudolfs Leben chronologisch in die untere Tabelle ein.
| Zeitangaben: |
Heute - Frühsommer 1990 - |
| Orte: | Im Elternhaus des Erzählers - Stuttgart - DDR - |
| Ereignisse und Erfahrungen: |
Ferien mit Familie - Erstes Treffen
mit dem Erzähler - Neuer Beruf - |
| Zeitangaben | Orte | Ereignisse und Erfahrungen |
| In den achtziger Jahren | . | Leben als Jazzmusiker |
| Juni 1988 | . | . |
| . | Paris | . |
| . | . | . |
| . | . | . |
| . | . | . |
2. Richtig oder falsch? Kreuzen Sie an und begründen Sie Ihre Antwort mit einem Zitat.
|
a) Vor ihrem ersten Treffen hatten Rudolf und der Erzähler eine langjährige Korrespondenz. |
Richtig Falsch |
Zitat: ... ... ... |
|
|
b) Um aus der DDR ausreisen zu dürfen, brauchte Rudolf eine offizielle Erlaubnis |
Richtig Falsch |
Zitat: ... ... ... |
|
| c) Die erste Reise nach Paris hatte Rudolf lange geplant. | Richtig Falsch |
Zitat: ... ... ... |
|
| d) Rudolf sah zum ersten Mal einen Flipper. | Richtig Falsch |
Zitat: ... ... ... |
|
| e) Im New Morning wäre Rudolf gern unerkannt geblieben | Richtig Falsch |
Zitat: ... ... ... |
|
| f) Rudolfs Band war nach dem Mauerfall immer noch gefragt. | Richtig Falsch |
Zitat: ... ... ... |
|
| g) Der Vater des Erzählers machte Rudolf einen Vorschlag. | Richtig Falsch |
Zitat: ... ... ... |
|
| h) Rudolf fühlte sich unsicher, weil er keine Erfahrung als Versicherungsagent hatte. | Richtig Falsch |
Zitat: ... ... ... |
|
3. Auf welche Person(en) beziehen sich folgende Pronomen?
| "Wir aßen in einer großen Brasserie zu Abend": ... ... ... ... ... ... |
| "..., der sich schwerfällig hinter die Becken setzte": ... ... ... ... ... ... |
| "Das habe ich ihm auch gesagt": ... ... ... ... ... ... |
| "..., um ihn zu schulen" ... ... ... ... ... ... |
4. Ordnen Sie jedem Zitat ein Adjektiv zu.
erstaunt - sehr beschäftigt - verlegen - besorgt - belustigt
| Zitat | Adjektiv |
|
"Er lachte über seinen Einfall. " |
... |
|
"Das ist also ein Flipper. " |
... |
|
"Rudolf lief rot an und winkte ab." |
... |
|
"Auf Rudolfs Ferienstimmung lag ein Schatten. " |
... |
|
"Rudolf arbeitet viel, um den Bestand zu erhöhen". |
... |
5. Übersetzen Sie von "Er hatte eine Reiseerlaubnis..." bis "...zum Abendessen einladen" ins Französische.
... ... ...
| II. EXPRESSION sur 10 |
1. Wie erklären Sie, dass Rudolf nicht mehr von seiner Musik leben kann? [etwa 50 Wörter]
... ... ...
2. Der Vater des Erzählers versucht Rudolf zu überreden, Versicherungsagent zu werden. Erfinden Sie den Dialog zwischen den beiden Männern. [etwa 100 Wörter]
... ... ...
3. Behandeln Sie eines der beiden Themen. [mindestens 100 Wörter]
a. Können politische, historische Ereignisse oder wirtschaftliche Faktoren ein Leben verändern oder beeinflussen ? Führen Sie Beispiele an.
... ... ...
b. Ist es für Sie wichtig, im Familien- oder Freundeskreis jemanden zu haben, auf den man stolz ist oder den man bewundern kann? Warum?
... ... ...