TEXT A
Künstliche Intelligenz
Manfred Hild, ein Wissenschaftler, hat eine Maschine aus Plastik und Metall gebaut, die begreifen soll, was Emotionen sind. Im Sommer soll Myon, der Roboter, als Opernstar auftreten.
Er ist so groß wie ein siebenjähriges Kind und lernt noch: Myon ist Teil eines Musikprojektes an der Komischen Oper Berlin. Sein Konstrukteur will einen Roboter bauen, der wie ein Mensch funktioniert.
My Square Lady heißt das Stück, in dem Myon auftreten soll. Die Handlung: Ein Mensch versucht, einen Roboter nach seinem Ebenbild (1) zu schaffen - und dann entwickelt der Roboter ein Eigenleben. Das ist die Idee. Aber sie wird nur aufgehen (2), wenn der Roboter mindestens gehen und sprechen kann. Besser wäre, er könnte auch singen. Musik, das ist die Idee, kann einer Maschine beibringen, was Emotionen sind. Sollte das funktionieren, dann wäre die Grenze zwischen Mensch und Maschine abgelöst (3).
In seinem Jahr an der Komischen Oper hat Myon Fortschritte gemacht, aber verglichen mit einem Menschen steht er immer noch auf dem Niveau eines Klein
kindes. Wie ein Kind hat auch der Roboter das Potenzial zu mehr, glaubt Manfred Hild. So wie ein Kind zu einem Mozart werden kann, auch wenn es am Anfang seines Lebens noch nicht Klavier spielt. Wahrscheinlich wird Myon kein zweiter Mozart werden, und es wäre schon ein Wunder, wenn er die durchschnittliche (4) Intelligenz eines Menschen erreichen würde.
Hild spricht immer wieder von Myons Entwicklung: Myon wird wie ein kleines Kind eines Tages seinen Willen entdecken. Er wird Nein sagen und bockig (5) sein, einfach um auszuprobieren, was dann passiert: Nein! Manfred Hild hat keine Kinder. "Myon ist mein Kind", sagt er. Aber können wir uns vorstellen, dass sich am Ende Myon, die Maschine, von Manfred Hild emanzipiert? Dass sie einen eigenen Willen entdeckt? Wäre eine solche Maschine eine Gefahr für den Menschen?
Nach Carolin Pirich, DIE ZEIT, 7. Februar2015
- 1 nach seinem Ebenbild: à son image
- 2 auf/gehen: (ici) se réaliser
- 3 ab/lösen: (ici) supprimer
- 4 durchschnittlich: moyen
- 5 bockig: têtu
TEXT B
Wolfgang Amadeus: ein Wunderkind?
Der Neuropsychologe Lutz Jäncke aus Zürich hat sich für Mozart interessiert. Mit fünf Jahren komponierte Wolfgang Amadeus Mozart sein erstes Menuett, mit elf sein erstes Bühnenstück. Der Vater sprach von einem Wunder. Was sagt die Wissenschaft heute?
Wir wissen, dass der kleine Wolfgang Amadeus in einem Haushalt aufgewachsen ist, in dem das ganze Leben von Musik bestimmt war. Der Vater war Kapellmeister und Musiklehrer. Tägliches Musizieren war im Hause Mozart also lebenswichtig und das muss die frühkindliche Entwicklung beeinflusst haben. Mozart hat sehr früh begonnen zu musizieren, und wenn Kinder etwas intensiv üben, zeigen sie erstaunliche Leistungen (1). Spielt ein Kind früh Schach (2), wird es mit Sicherheit Schachexperte. Kinder können ein Expertentum entwickeln, das Erwachsenen wie ein Wunder erscheint.
Jedenfalls wollte der Vater mit seinen Kindern offenbar Geld verdienen und präsentierte sie als Wunderkinder. Als Wolfgang sechs Jahre alt war, ging der Vater mit ihm und der vier Jahre älteren Schwester Nannerl auf Tournee. Sie spielten am Kaiserhof in Wien, vor Ludwig XV. in Paris und vor Georg III. in London.
Wie viele Kinder, die extreme Fähigkeiten entwickeln, hatte Mozart aber auch defizitäre Bereiche. Er war in sozialer Hinsicht ungeschickt und unsicher. Der Umgang mit seinen Freundinnen und den Frauen zum Beispiel war nicht richtig erwachsen. Er hat es nie geschafft, sich von seinem Vater zu lösen (3), ein eigenes Leben aufzubauen, und in der wirtschaftlichen Lebensplanung war er geradezu ein Analphabet.
Zwar muss er auch Talent besessen haben, doch wichtiger ist die Frage nach der Motivation dieses Talents: Warum hat dieser kleine Junge mit drei Jahren so intensiv und erfolgreich Geige und Klavier geübt? Biografen schreiben, er sei ein außergewöhnlich liebesbedürftiges Kind gewesen, das jeden Tag hart lernen musste. Es könnte erklären, warum Mozart sich so lange dem Vater unterworfen (4) hat und erst sehr spät rebellierte. Man kennt die Briefe an den Vater, der für Mozart "gleich nach Gott" kam.
Nach Philip Wolff, Süddeutsche.de, 17. Mai 2010
- 1 die Leistung(en): la performance
- 2 Schach spielen: jouer aux échecs
- 3 sich lösen: se détacher
- 4 sich jm unterwerfen: se soumettre à qqn
ABBILDUNG

Spiegelcover, 2.10.2015
Operation Wunderkind: Wie Eltern den Erfolg ihrer Söhne und Töchter erzwingen
(= arracher, obentir par la force)
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